Liebe Genossinnen und Genossen,
wenn ich an das kommende Jahr denke – oft wünschen wir uns fast schon routinemäßig, ein friedliches, erfolgreiches… neues Jahr – möchte ich diesmal beim Wunsch nach Frieden etwas innehalten: Bei all dem Leid in der Welt müssen wir uns – neben der Forderung, die Waffen niederzulegen und zu verhandeln – auch die Zuversicht auf eine bessere Zukunft und Hoffnung auf Frieden bewahren.
Der schreckliche Angriffskrieg Putins auf die Ukraine dauerte fort, die Klimakrise belastet uns seit Jahren, so auch im vergangenen und dem kommenden Jahr, die sozialen und psychischen Folgen der Corona-Pandemie sind noch immer präsent und die brutalen Kämpfe im Nahen Osten besetzen unsere Gedanken am Ende des alten und zu Beginn des neuen Jahres.
Wir müssen auch Denkreflexe überwinden: Wer sich für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser einsetzt, müsse gegen Israelis sein oder antisemitisch. Oder: wer für das Existenzrecht Israels eintritt, bestreite das Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser auf einen eigenen Staat. Nein: Nur beide Völker gemeinsam können eine friedliche Zukunft haben. In zwei Staaten mit fairer Gebietsaufteilung.
Der barbarische Angriff der terroristischen Hamas am 7. Oktober 2023 auf friedliche Israelis und die Geiselnahme ist durch nichts zu rechtfertigen. Durch nichts.
Dieser Angriff kann aber auch nicht den Vernichtungsfeldzug Netanjahus über den Gazastreifen rechtfertigen. Nicht alle Palästinenserinnen und Palästinenser sind terroristische Hamas (Qassam-Brigaden) und bestreiten das Existenzrecht Israels, nicht alle Israelis unterstützen die Politik von Netanjahu. Fast alle wollen zivile Opfer vermeiden.
Ich schreibe das so ausführlich, weil es auf dem Weg zum Frieden so wichtig ist, den Schmerz der Anderen zu begreifen.
Ähnliche Gedanken beschäftigen mich, wenn ich an den Überfall auf die Ukraine denke. Eben, vielleicht noch eine ganze Weile, scheint eine Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Europa unter Einschluss Russlands undenkbar. Aber ist Europa und Frieden in Europa ohne Russland dauerhaft möglich? Wir werden den Weg zum Frieden nur finden können, wenn wir lernen, das (scheinbar) Undenkbare zu denken, weil morgen schon möglich sein kann, was noch heute unvorstellbar.
Wahrscheinlich gilt dies auch für die vielen anderen Konflikte und Kriege in der Welt. Der erste Schritt werden stets diplomatische Verhandlungen sein. Deshalb hat unsere Arbeitsgemeinschaft, die AG SPD 60 plus, den Appell formuliert: "Mehr Diplomatie wagen". Wir fordern die inneren Uhren der Kriege anzuhalten, bevor es weitere unzählige Tote gibt und bevor alles in Schutt und Asche liegt.
Dabei gefällt mir ein Gedanke von Baruch de Spinoza zum Frieden besonders gut, weil er zur sozialdemokratischen Idee passt: „Friede ist nicht Abwesenheit von Krieg. Friede ist eine Tugend, eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit.“ Auch wenn es den Drang, vielleicht den Zwang zur Verteidigung gibt, ist es dem Menschen innewohnend, sich an dieser Geisteshaltung zu orientieren. Friedenspolitik orientiert die Gesellschaft in Richtung Frieden – auch in Kriegszeiten.
Wie froh können wir sein, in einer Region zu leben, die schon über 75 Jahre keinen Krieg erlebt hat – auch dank einer Parteiendemokratie, die das Völkerrecht, das Selbstbestimmungsrecht der Völker respektiert, dank Politikern wie Willy Brandt oder Michail Gorbatschow, dank Regierungen und Parlamenten, dank unseres Kanzlers und unserer Bundestagsfraktion, die sich international abstimmen.
Die Weltlage ist kompliziert und hält so manche unberechenbare Wendung bereit. Die Lebenslage vieler Menschen ist auch kompliziert: arm oder von Armut bedroht, einsam, auf der Suche nach einer Wohnung oder Arbeit oder voller Sorge, wie man in Zukunft über die Runden kommt.
Deshalb ist es uns so wichtig sich demokratisch zu engagieren und unsere Gesellschaft stark zu machen gegen Rechtsextreme hinter demokratischer Maske, stark zu machen gegen Kriegstreiber, stark zu machen für faire Steuern auch für Superreiche, die auf Kosten der übrigen Gesellschaft leben, Einkommen und Vermögen unanständig vermehren und verschleiern. Deshalb macht sich die AG SPD 60 plus Gedanken über die anstehenden Wahlen in Thüringen, Sachsen, Brandenburg, die Europawahl und die vielen Kommunalwahlen in Deutschland, aber auch die Präsidentschaftswahl in den USA. Nicht selten wählen Bürgerinnen und Bürger gegen ihre eigenen Interessen und bemerken ihren Fehler erst, wenn es zu spät ist.
Selbst wenn in einer Regierungskoalition mit den Grünen und insbesondere mit der FDP nicht an deren Umsetzung zu denken ist, die Beschlüsse des SPD-Bundesparteitags im Dezember 2023 zur Vermögenabgabe und der Anhebung der Einkommensteuer für sehr hohe Einkommen und zur Änderung der Schuldenbremse, um wirtschaftliche Entwicklung und Klimaschutz zu fördern, sind sehr gut, sind auf dem Pfad der Gerechtigkeit und stimmen uns hoffnungsvoll.
Beschlüsse auf Parteitagen, gute Reden, gelungene Talkshows und bebilderte Kurzbotschaften in den neuen Medien sind aber nicht genug – wir brauchen eine Kampagne „Für Demokratie und Gerechtigkeit“ – vielleicht in Analogie zur „No Groko“ Kampagne nach den Wahlen im Herbst 2017. Damals sind Leute in unsere Partei eingetreten „um nein zu sagen“ – heute sollen sie eintreten „um ja zu sagen“, ja zur Demokratie, ja zur Gerechtigkeit, ja zur SPD.
Es genügt nicht mehr unsere Leistungen und die Leistungen und Erfolge der SPD-Bundestagsfraktion und der Regierung aufzuzählen – und diese Leistung kann sich sehen lassen: Kompaktinfo der SPD-Bundestagsfraktion Reden von Friedhelm Hilgers und Lothar Binding auf dem SPD-Bundesparteitag Trotz dieser wirklich guten Leistungen unserer Regierung, unserer Bundestagsfraktion, trotz guter Arbeit in den Landesparlamenten und von unseren Ministerpräsidenten und trotz guter Arbeit in den Kommunen und unserer Abgeordneten im Europäischen Parlament, ist unsere Partei im Moment nicht besonders populär. Das zeigt sich zuerst durch abnehmende Mitgliederbindung nach innen und schließlich auch in den Wahlergebnissen. Vertrauen und Respekt wachsen entlang vieler kleiner Alltagserlebnisse – oder sie gehen verloren. Richtig schwer ist es, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.
Wenn wir bedenken, auf welch unterirdischem Niveau sich etwa die CDU bewegt – zurück zu Atomkraftwerken oder Leitkultur nicht ohne Weihnachtsbäume – sollte es uns doch gelingen, Vertrauen und Respekt nach innen und Vertrauen nach außen zu erhalten und zu gewinnen.
Respektvoller Umgang bedeutet beispielsweise, dass Mandatsträger, Mandatsträgerinnen und Repräsentanten der Partei Briefe beantworten. Respektlos wäre es, wenn z.B. die Behandlung von Anträgen auf Parteitagen ohne Debatte durch Geschäftsordnungstricks verhindert wird. Vertrauen wird aufgebaut, durch transparente Verwendung von Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Vertrauen geht verloren, wenn auf Parteitagen Gesundheitspolitik großgeschrieben wird, aber im Foyer die Zigarettenindustrie Werbung für krebserregende Produkte machen darf. Vertrauen geht auch verloren, wenn der Klimakrise überall und ständig der Kampf angesagt wird, es dann aber in der Praxis ein Sondervermögen zur militärischen Aufrüstung aber kein Sondervermögen zum Schutz des Klimas gibt. Vertrauen wird auch enttäuscht, wenn staatliche Versprechen nicht eingehalten werden: Seit über 30 Jahren warten ehemalige Bergleute in der DDR auf die vollständige Umsetzung der Rentenüberleitungsgesetze – wer 30 Jahre darauf wartet, dass der Staat seine Versprechen einhält, fühlt sich respektlos behandelt und hat jegliches Vertrauen in „die Politik“ verloren. Eine gute Idee der Regierung: Seit Oktober 2022 gibt es die Möglichkeit, den Beschäftigten steuer- und abgabenfrei bis zu 3.000 Euro zum Ausgleich der Inflation zu zahlen. Auch Beamte und Pensionäre des Bundes erhalten eine Inflationsausgleichsprämie – Rentnerinnen und Rentner, mindestens ebenso von der Inflation betroffen wie Pensionäre, gehen leer aus. Das ist weder logisch noch gerecht und so wird aus einer guten Idee eine große Enttäuschung und viele fühlen sich allein gelassen.
Nächstenliebe und Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit bilden das Zentrum unserer Politik, der Rechtsstaat bildet den Rahmen. Migration heißt Wanderung, Zuwanderung, Einwanderung, Auswanderung.
Unter dem Druck rechtsextremer und ausländerfeindlicher Proteste, wurde 1993 der einfache Satz im Grundgesetz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." durch die Drittstaatenregelung ersetzt. Die „Drittstaatenregelung“ bedeutet, dass, wer über ein EU-Land oder ein anderes Nachbarland Deutschlands einreist, keinen Anspruch auf Asyl hat und sofort abgewiesen werden kann. Auch Flüchtlinge aus "sicheren Herkunftsstaaten", also Ländern, in denen keine Verfolgung oder unmenschliche Behandlung droht, haben seither keinen Anspruch auf Asyl.
Dreißig Jahre später im Jahr 2023 gibt es den „EU-Asylkompromiss“, nachdem Migrantinnen und Migranten in riesigen Lagern an den Außengrenzen Europas unter haftähnlichen Bedingungen interniert werden – das gilt (gegen den Willen der Sozialdemokraten) ohne Ausnahme auch für Familien und Kinder. Es bleibt unklar, wie in solchen Lagern menschenunwürdige Zustände vermieden werden sollen. Es bleibt unklar, welche Staaten sich als aufnehmende Drittstaaten vertraglich verpflichten. Schließlich bleibt unklar, welche Möglichkeiten die EU hat, nicht kooperative EU-Staaten, wie etwa Ungarn unter Orban, zu zwingen, die vereinbarten Gelder zu bezahlen. Wer diesen Kompromiss als Durchbruch, als europäische Lösung verteidigt, gibt das Bekenntnis zur Menschenwürde auf.
Statt in der EU ein System zur legalen Einwanderung zu entwickeln, notfalls ohne Orban, wird mit solchen Kompromissen das politische Spektrum nach rechts verschoben, die Orbans gewinnen, die Menschenwürde verliert und die Klarheit, dass die SPD auf der Seite der Schwachen steht, geht verloren. Solche Kompromisse dürfen nicht verteidigt oder gar als Erfolg verklärt, sie dürfen höchstens und müssen erklärt werden, denn rechts der Mitte werden sie lächerlich gemacht und als wirkungslos dargestellt, links der Mitte gelten sie als unmenschlich und dem Rechtsstaat nicht würdig, die SPD würde sich selbst zerlegen, bzw. dazwischen zerrieben.
Dabei genügt es nicht vom Staat, der Gesellschaft oder der Partei einfache Lösungen zu erwarten, manchmal gibt es weder einfache noch kurzfristige Lösungen. Viel wichtiger ist es sich selbst einzubringen, einzeln und in Gemeinschaft und dabei seine Kraft nicht in fruchtlosem Gegeneinander zu vergeuden, sondern in Gemeinschaft dem Ganzen zu dienen. Mit diesem Engagement können wir täglich erneut erleben, dass das Ganze viel mehr ist als die Summe seiner Teile. Das erzeugt ein gutes Gefühl der Stärke.
Mit dem Ziel, Vertrauen zu gewinnen, mit dem Ziel eine Stimme für die Mehrheit unter Einschluss der Schwachen zu sein, mit dem Ziel die Demokraten zu bestärken, wählen zu gehen, macht sich die AG SPD 60 plus im kommenden Jahr erneut auf den Weg.
Wir freuen uns darauf, wenn Ihr uns auf diesem Weg begleitet, und danken Euch für die bisherige Unterstützung, Euren Einsatz bei Wind und Wetter, Eure Beratung in Fachfragen und Eure Initiativen, wir bedanken uns auch für Eure Kritik und Fehlertoleranz, denn trotz größter Anstrengung machen wir immer wieder Fehler, die zu entdecken und zu korrigieren sind.
Wir danken auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Willy-Brandt-Haus und den Regionalgeschäftsstellen: Erst durch die Symbiose – die Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen und in wechselseitiger Abhängigkeit – von hauptamtlichen Spezialistinnen und Spezialisten, Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern und ehrenamtlichen All-round-Engagierten können eine überwiegend soziale und demokratische Gesellschaft und ihr Zusammenhalt gelingen. Im Namen der AG SPD 60 plus wünschen wir Euch einige geruhsame Tage, alles Gute und viel Erfolg im Jahr 2024.
Viele Grüße, Gerlinde Böttcher-Naudiet, Friedhelm Hilgers, Ingrid Reske, Gisela Arnold, Frank Kupferschmidt, Heinz Oesterle, Susanne Pape, Norbert Theobald, Marie-Jeanne Zander und
Lothar Binding
Bundesvorsitzender der AG SPD 60 plus